RADFAHREN GEGEN STRESS, ANGST UND DEPRESSION
Frau Dr. Weigand, aus Ihrer beruflichen Erfahrung: Wie beeinflusst regelmäßiges Radfahren das allgemeine psychische Wohlbefinden?
Fahrradfahren ist nach meiner beruflichen und persönlichen Erfahrung in mehrfacher Hinsicht förderlich für das psychische Wohlbefinden: Zum einen handelt es sich um einen moderaten Ausdauersport, bei dem das Glückshormon Serotonin ausgeschüttet wird, was stimmungsaufhellend wirkt. Darüber hinaus erzeugt die gleichmäßige, rhythmische Bewegung einen Flow-Zustand, der es erleichtert, im Hier und Jetzt zu verweilen und Grübeleien über Vergangenheit oder Zukunft loszulassen. Auch seine Alltagstauglichkeit ist ein weiterer Vorteil des Radfahrens – es kann als Fortbewegungsmittel genutzt werden, was bedeutet, dass die positiven Effekte dieser Bewegung auch ohne zusätzlichen Zeitaufwand in den Tagesablauf integriert werden können.
Welche Vorteile für die mentale Ausgeglichenheit hat es, Zeit in der Natur auf dem Fahrrad zu verbringen?
Die Natur hat viele positive Effekte auf unser psychisches Wohlbefinden. Beim Radfahren in der Natur wird Stress reduziert, das Selbstwirksamkeitserleben gesteigert und Kreativität gefördert. Außerdem hilft die Bewegung im Freien, die Schlafqualität zu verbessern, da frische Luft und körperliche Aktivität die Erholung unterstützen. Die Natur gibt uns viele neue Impulse und Eindrücke, die uns helfen, präsenter und fokussierter zu sein.
Kann Radfahren helfen, Symptome von Angst und Depression zu lindern? Wenn ja, wie?
Ja, Radfahren kann tatsächlich helfen, Symptome von Angst und Depression zu lindern. Tatsächlich legen zahlreiche Studien nahe, dass regelmäßige Bewegung die Symptome von Depressionen signifikant lindern kann, mit ähnlicher Wirksamkeit wie medikamentöse Behandlungen. Insbesondere Ausdauer- und multimodale Sportarten, die verschiedene Bewegungsarten kombinieren, zeigen große Effekte bei der Verbesserung der depressiven Symptome. Hierzu gehört ebenso der Radsport.
Die positiven Auswirkungen von Radsport auf die Psyche umfassen unter anderem die Freisetzung von Endorphinen, eine bessere Schlafregulation und die Förderung sozialer Interaktion. Außerdem könnte die Bewegung beim Radfahren auch neurobiologische Anpassungsprozesse fördern, wie etwa die Bildung neuer Nervenzellen und die Verbesserung kognitiver Prozesse im Gehirn. Wenn depressive oder ängstliche Symptome vorliegen, kann Radfahren die Stimmung aufhellen und durch die Überwindung zur Bewegung ein positives Erlebnis darstellen, welches eine „Aufwärtsspirale“ in Gang setzen kann.
Welche Rolle spielt körperliche Bewegung wie das Radfahren bei der Stressbewältigung?
In einer Studie aus dem Jahr 2021 wurde untersucht, inwiefern Radfahren im Vergleich zu anderen Fortbewegungsmitteln den Stress beeinflusst. Dazu wurde die Hautleitfähigkeit als Maß für Stress gemessen. Es zeigte sich, dass Radfahren dieses Stressmaß um 11 % senkte. Woran liegt das? Radfahren senkt den Blutdruck und verbessert die Lungenkapazität. Durch diese beiden Parameter wird der Herzschlag als ruhiger und die Atmung als regelmäßiger wahrgenommen, was die Psyche direkt als „kein Stress“ interpretiert. Wenn man akut gestresst ist und sich aufs Fahrrad schwingt, ist es zudem möglich, negative Emotionen schneller zu verarbeiten, da durch die zyklische Bewegung ein Flow-Zustand erleichtert wird. Und es ist unmöglich, in einem Flow-Zustand zu sein und gleichzeitig über vergangene negative Ereignisse nachzugrübeln, da unser Gehirn nicht multitaskingfähig ist.
Wie kann Radfahren die Konzentration und den Fokus bei Menschen verbessern, die unter mentaler Erschöpfung oder Burnout leiden?
Mental erschöpfte Menschen erleben oft einen Überfluss an Stresshormonen, was die Konzentration beeinträchtigt. Durch das Radfahren wird dieses Gleichgewicht wiederhergestellt, da durch die regelmäßige Bewegung Cortisol abgebaut wird und zugleich Serotonin ausgeschüttet wird, welches zu mentaler Ruhe und Wohlbefinden führt. Zudem wird während des Radfahrens die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn erhöht, was die kognitive Leistungsfähigkeit verbessert. Die gesteigerte Durchblutung hilft nämlich, die Gehirnfunktionen zu optimieren. Außerdem erfordert Radfahren einen gewissen Grad an Konzentration auf die Umgebung, den Körper und die Strecke. Diese Form der aktiven Achtsamkeit hilft, sich auf den gegenwärtigen Moment zu konzentrieren und geistige Ablenkungen zu minimieren. Dadurch wird das Gehirn trainiert, wieder Fokus zu entwickeln, was sich dann auch auf andere Situationen übertragen lässt. Zu guter Letzt fördert regelmäßiges Radfahren den Schlaf, was entscheidend für die Regeneration des Gehirns und die Wiederherstellung der Konzentrationsfähigkeit ist.
Welche positiven Effekte auf die mentale Gesundheit – auch hinsichtlich Prävention – kann man erwarten, wenn man Radfahren in den Alltag integriert?
Durch Radfahren wird chronischem Stress vorgebeugt, da durch die Senkung des Stresshormons Cortisol alltäglicher Stress abgebaut wird und sich kein Zustand einstellen kann, in dem der Organismus über eine lange Zeit gestresst ist. Zudem wird durch regelmäßiges Radfahren das Risiko für die Entwicklung von Angststörungen und Depressionsn verringert, da die Selbstwirksamkeit durch den Sport erhöht wird und die Routine Struktur und Ausgleich im Alltag bietet. Die Fähigkeit zur Achtsamkeit wird durch Radfahren geschult, was ebenfalls präventiv gegen psychische Störungen wirkt. Der verbesserte Schlaf durch das Radfahren trägt ebenfalls zu einer langfristigen Stärkung der emotionalen Stabilität bei und wirkt chronischer Erschöpfung präventiv entgegen.
Wie fördert das Radfahren in der Gruppe oder mit einem Partner das soziale Wohlbefinden und hilft gegen Einsamkeit?
Radfahren mit anderen schafft gemeinsame Erlebnisse, die das Gefühl von emotionaler Nähe verstärken und somit Einsamkeitsgefühle verhindern. Außerdem kann man sich beim Radfahren in der Gruppe gegenseitig motivieren und unterstützen. Wer in Gruppen aktiv ist, ist tendenziell öfter aktiv, da durch die soziale Komponente ein Commitment zur Aktivität geschaffen wird. Das gemeinsame Radfahren ermöglich es überdies, sich in entspannter Umgebung auszutauschen, was im hektischen Alltag oft zu kurz kommt. Somit wird nicht nur die Quantität sondern auch die Qualität der Interaktion durch das Radfahren gefördert. Wenn beim Radfahren ein gemeinsames Ziel besteht, wird zudem eine tiefere Verbundenheit geschaffen, da so gemeinsam etwas erreicht und der Erfolg geteilt wird.
Gibt es spezifische psychische Erkrankungen, die besonders von regelmäßigem Radfahren profitieren könnten?
Ja, es gibt einige psychische Erkrankungen, bei denen ich das Radfahren besonders empfehlen würde:
- Depressionen: Zahlreiche Studien legen nahe, dass regelmäßige körperliche Bewegung wie Radfahren, depressive Symptome lindern kann. Vor allem bei leichten bis mittelschweren Depressionen kann Radfahren helfen.
- Angststörungen: Bei Angststörungen, insbesondere der Generalisierten Angststörung (GAS), kann Radfahren helfen, da es den Fokus in die Gegenwart lenkt und eins der Hauptsymptome bei der generalisierten Angststörung das Sorgen über mögliche zukünftige Ereignisse ist. Die rhythmische, gleichmäßige Bewegung wirkt verbessert das Atemmuster und kann so das Nervensystem beruhigen.
- Auch bei neuronalen Entwicklungsstörungen wie ADHS und Autismus kann Radfahren sehr helfen: Bei ADHS kann es ein wirksames Mittel zum Auspowern bei Hyperaktivität sein. Bei Autismus kann es ein beruhigendes, strukturgebendes Element im Alltag sein.
- Schlafstörungen: Radfahren kann durch körperliche Erschöpfung und Stressabbau und Bewegung am Licht zu einer Verbesserung der Schlafqualität beitragen. Da Schlafstörungen oft von anderen psychischen Erkrankungen wie Depression und Angst gefolgt werden, wirkt sich eine bessere Schlafqualität auch direkt positiv auf die Gesamtheit der psychischen Symptome aus.
- Essstörungen: Radfahren kann helfen, eine gesunde positive Beziehung zum Körper aufzubauen, ohne in zwanghafte Sportmuster zu verfallen, wie es bei Kraftsport oftmals passiert.
Welche Rolle spielt die gleichmäßige Bewegung beziehungsweise der Rhythmus des Radfahrens bei der Förderung von innerer Ruhe und Entspannung?
Erstens wirken die gleichmäßigen, wiederholten Bewegungen beim Radfahren beruhigend auf das autonome Nervensystem, insbesondere auf den parasympathischen Teil, der für Entspannung und Regeneration zuständig ist. Ähnlich wie rhythmisches Atmen oder Gehen kann das gleichmäßige Treten der Pedale dabei helfen, den Körper und Geist in einen Zustand der Ruhe zu versetzen. Zweitens ist der Körper beim Radfahren in einer rhythmischen Aktivität eingebunden, die den Fokus auf den Moment lenkt. Diese Form der Achtsamkeit – sich auf die Bewegung, die Atmung und die Umgebung zu konzentrieren – hilft, den Geist von stressigen Gedanken abzulenken und Grübeln zu reduzieren. Dies schafft mentale Ruhe. Drittens wird durch den Rhythmus des Radfahrens eine Synchronisation zwischen der körperlichen Aktivität und den mentalen Prozessen hergestellt. Dies ist insbesondere bei Stress oder mentaler Erschöpfung förderlich, da beide Zustände oft durch „Gedankenrasen“ bei gleichzeitiger körperlicher Untätigkeit gekennzeichnet sind. Außerdem kombiniert Radfahren in einer natürlichen Umgebung die rhythmische Bewegung mit visuellen, auditiven und kinästhetischen Reizen. Diese sensorische Stimulation wirkt beruhigend und erdend.
Welchen Rat würden Sie jemandem geben, der mit psychischen Problemen zu kämpfen hat und Radfahren als Therapie oder Stressabbau in Betracht zieht?
Ich würde die Person in diesem Beschluss bestärken, denn Radfahren ist eine leicht im Alltag verfügbare Strategie, um schnell eine Stimmungsverbesserung herbeizuführen und innere Ruhe zu erwirken. Es wäre hilfreich, zeitnah eine Routine beim Radfahren zu etablieren, damit sich eine Regelmäßigkeit einstellt. Daher würde ich empfehlen, das Rad entweder als Fahrzeug zum Pendeln zu benutzen oder aber, falls das aufgrund zu langer Fahrtwege oder aus anderen Gründen nicht möglich ist, mehrfach pro Woche eine regelmäßige Tour durchzuführen. Ich würde aber zudem betonen, dass es sich beim Radfahren zwar um eine stabilisierende Maßnahme handelt, bei schweren psychischen Problemen aber eine Psychotherapie ergänzend durchzuführen ist.
Herzlichen Dank, Frau Dr. Weigand, für das aufschlussreiche Interview und Ihre wertvollen Einblicke in die Zusammenhänge zwischen Radfahren und mentaler Gesundheit!